Konstanz - Marseille
Reisebericht einer dreiwöchigen Radtour vom Bodensee durch die Schweiz und die französischen Alpen in die Provence
Urlaub vor der Haustür, Urlaub in der Natur – das waren wohl auch die Trends der Urlaubssaison 2021. In diesem Sinne war meine Radreise Ende Juni/Anfang Juli ganz Corona-conform. Doch in anderer Dimension war sie kein durchschnittlicher Urlaub: 19 Tage, 1.285 km und ca. 22.000 Höhenmeter zwischen Konstanz und dem Mittelmeer. Meinem Vater, der sicherlich dazu beigetragen hat, dass das Fahrrad bei mir in Beruf und Freizeit eine große Rolle spielt, konnte ich in diesem Sommer die Erfüllung eines Wunsches ermöglichen: Einmal mit dem Fahrrad ans Mittelmeer fahren.
Wir nehmen uns drei Wochen Zeit und satteln die Räder in Baden-Baden bzw. Konstanz und brechen zunächst auf in die vertraute Schweiz. Zwischen dem flachen Mittelland und dem knackigen Furkapass wählen wir die Voralpen als mittelschwere Route und als Einstimmung auf die später folgenden französischen Alpenpässe. Los geht es über Bischofszell und St. Gallen nach Urnäsch durch die malerische Ostschweiz. Nach einer Nacht im Zelt bei Urnäsch erreichen wir am nächsten Morgen oberhalb von Urnäsch mit dem Schönaupass den ersten Pass der Tour. Auf der Passhöhe verkündet ein rotes Schild, dass wir uns auf 1068 m über dem Meer hochgearbeitet haben. Dem Radfahrer ist es eine Freude, spätestens an der Passhöhe verkündet zu bekommen, was man geleistet hat. Während solche Schilder in der Schweiz eher sparsam verteilt scheinen, gehören sie an den französischen Pässen zu regelmäßigen Begleitern am Wegesrand, wo sie spätestens nach einem Kilometer wieder die aktuelle Höhe und Steigung anzeigen. Am Pass ist dann ein Foto mit Radlern und bepackten Rädern Pflicht.
Apropos bepackte Räder: Obwohl sehr verschieden, sorgen unsere beiden Räder für neugierige Blicke: Mein Vater ist mit seinem Mitte der 80er erworbenen Rennrad mit Stahlrahmen unterwegs, welches als Randonneur mit Beleuchtung, Schutzblechen und zwei Gepäckträgern aufgebaut ist. Gepäck trägt das als Oldtimer bewunderte Rad allerdings eher weniger, um die Kräfte für die Anstiege zu sparen. Ich selbst bin mit einem neuen Gravelbike unterwegs, dessen Beladung am Heck Anerkennung zu Teil werden lässt.
Mit dabei sind Zelt, Schlafsäcke und Isomatten, um bei der Routenplanung ganz flexibel zu sein. So können wir von Tag zu Tag flexibel entscheiden, wie wir die Nacht verbringen: In Luzern steigen wir im Bellpark Hostel ab und legen einen halben Pausentag ein, weil für mich ein halber Tag Homeoffice ansteht. In Thun beendet ein heftiges Gewitter unsere Tagesetappe und lässt uns in Uetendorf im Landgasthof Krone unterkommen, was die teuerste Übernachtung der Reise werden wird. Am Anstieg zum Col de Vars schlagen wir das Zelt neben der Straße auf, als die Sonne sich dem Horizont entgegen neigt und genießen den traumhaften Blick auf das Tal der Durance und das schneebedeckte Massif des Écrins. Einzig die Übernachtung bei privaten Gastgebern über warmshowers.org nutzen wir nicht. Hierzu wäre die Planung der Etappen 1-2 Tage im Voraus nötig, um ausreichend Zeit für Anfragen bei potentiellen Gastgeber*innen zu haben.
Doch zurück zur Route: Nach dem Appenzell geht es weiter von See zu See: Zürichsee, Ägerisee, Zuger See, Vierwaldstättersee und nach einer Fahrt durchs Entlebuch schließlich der Thuner See. Nach dem Simmental ist Gstaad der erste Ort, dem man ansieht, dass mit Wintertourismus das Geld verdient wird. Am Col de Pillon (1546 m), von wo aus man mit der Seilbahn zum Gletscher auf 3000 m schweben kann (Glacier 3000), überqueren wir die deutsch-französische Sprachgrenze. Es folgt eine rasante, herrliche Abfahrt ins Rhone-Tal, wo uns die Weinberge kurz vor Aigle in der warmen Ebene willkommen heißen.
Für den Autoverkehr führt die Route nach Frankreich von Martigny über den Col de la Forclaz – wir wählen stattdessen die alte Postkutschenroute (Route des Diligences) über Salvan. Kaum Verkehr, wunderschöne Blicke in die Schlucht des Trient und ins Rhone-Tal – aber die Strecke hat es in sich. Die Straße steigt teils steil an und auf dem nicht asphaltierten Stück zwischen Le Trétien und Finhaut ist mit dem ganzen Gepäck und schmalen Reifen dann doch schieben angesagt. Am Col des Montets öffnet sich der Blick auf eine grandiose Bergwelt: Das Mont-Blanc-Massiv beeindruckt mit imposanten Felsformationen und teils weit ins Tal reichenden Schnee- und Eismassen, während wir uns im trubelig-touristischen Charmonix-Mont-Blanc bei sommerlichen Temperaturen ein Eis gönnen. Der Mont-Blanc selbst hüllt sich die meiste Zeit in Wolken, auch wenn wir mit dem Camping Bellevue in Les Houches einen wunderbaren Aussichtsplatz für das Zelt ausgesucht haben.
Am nächsten Tag geraten wir auf die Route der Tour de France: Côte de Megève, Col des Saisies, Col du Pré, Cormet de Roselend und Auffahrt durch das Tal der Isère zum Lac du Chévril. Was für die Profis ohne Gepäck eine Tagesetappe ist, bereitet uns Freude für drei Tage. In der Region um das kleine Städtchen Beaufort scheint sich alles um Skifahren und Milchwirtschaft zu drehen. Die Milch der Kühe mit unverwechselbarer Färbung geht ausnahmslos an die großen Milchkooperativen, wo hauptsächlich der Beaufort und der Reblochon als international bekannte Savoyer Käsesorten hergestellt werden. Wer durch die Region radelt, sollte es sich nicht entgehen lassen, im Restaurant eine typische „Tartiflette au reblochon“ zu bestellen. Vegetarier sollten sich allerdings darauf einstellen, dass die Speisekarten der Region eher wenig Fleischloses bieten.
Die 2.200 Höhenmeter von Bourg-Saint-Maurice zum Col de l’Iseran (2770 m) teilen wir uns auf zwei Tage auf. Während bis zum Skiort Val d’Isere das Radfahren auf der viel befahrenen Straße wenig Freude bereitet, beginnt hinter dem Wintersportort ein landschaftlicher Traum. Üppig blühende Alpenwiesen glitzern im Morgentau, die Sonne und Wolken werfen ihr Licht- und Schattenspiel auf die umliegende Bergwelt. Beim bezwingen der Passstraße wird uns angenehm warm, während wir weiter oben durch die Schneereste am Straßenrand radeln. Auf der Passhöhe allerdings weht ein kalter Wind, die Wolken fallen als Schneekristalle zu Boden. Wir kehren an der Talstation des Skiliftes auf der Sonnenterrasse zum Mittag ein, bevor wir uns auf der Südseite vom höchsten Punkt der Radtour durch das schöne Hochtal des Arc hinunter rollen lassen bis Saint-Michel-de-Maurienne. Von hier nehmen wir zwei alte Bekannte von mir in Angriff: Den Col du Télégraphe (1566 m) und den sich anschließenden Col du Galibier (2642 m). Die Höhenmeter haben es in sich, aber die Landschaft entschädigt für die Strapazen: Hinter Valloire passieren wir die Baumgrenze, kaufen beim letzten Ziegenbauern des Tals frischen Käse und lassen unseren Blick über Almwiesen und umliegende Berggipfel schweifen. Von der Passhöhe lohnt sich der Fußweg zum etwas oberhalb gelegenen Aussichtspunkt, von wo sich uns eine grandiose Rundumsicht bei bester Fernsicht bietet. Orientierungspunkt bis zum Col de Vars bleibt das wuchtige Massiv des Écrins mit seinen Gletschern und Schneeresten. Zumindest in den ruhigen Abendstunden können Murmeltiere am Straßenrand aus nächster Nähe beobachtet werden. Ähnlich wie am später folgenden Col de Vars scheinen sie sich an die (Renn-)Radfahrer*innen gewöhnt zu haben.
Auf der Südseite des Col de l’Iseran kündigte es sich schon an, spätestens im Tal der Durance südlich der sehr sehenswerten Festungsstadt Briancon wird es offensichtlich: Es wird trockener. Man hat die saftig-grünen Wiesen der schweizer und savoyer Alpen hinter sich gelassen und bewegt sich Richtung Provence. Uns bläst bis zum UNESCO-Welterbe Festung Mont Dauphin ein kräftiger, warmer Wind entgegen, der mich nicht davon abhält, ein kurzes Bad in den eisigen Wassern der Durance zu nehmen, bevor es hinauf in Richtung Col de Vars (2108 m) geht. Südlich von Barcelonnette haben wir die Wahl zwischen den parallel in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Straßen über den Col de Cayolle und den Col d’Allos. Weil der Col d’Allos aufgrund eines Erdrutsches als gesperrt ausgewiesen ist, nehmen wir den Col de Cayolle, was sich als Glückstreffer erweist: Auf schmaler, verkehrsarmer Straße geht es anfangs durch eine schöne Schlucht, später gewinnt die Straße Stück für Stück an Höhe ohne besonders steil zu werden. Unterwegs ein paar kleine Dörfer und ein Kloster, weiter oben dann der Mercantour-Nationalpark. Lärchenwälder wechseln sich mit Almwiesen fast bis zum Pass (2326 m) ab. Die folgende, gut 50 km lange Abfahrt auf der Südseite führt durch ein weiteres landschaftliches Highlight: Die Gorges de Daluis. Der Var hat sich tief in hartes, rotes Gestein geschnitten, die Straße führt weit oberhalb der Schlucht entlang und ermöglicht Ausblicke in schwindelerregende Tiefe. Südlich der Gorges lässt das sehr breite Flussbett erahnen, welche Wassermassen zur Schneeschmelze hier aus den Bergen des Queyras in Richtung Mittelmeer fließen.
Noch spektakulärer als die Schlucht bei Daluis zeigen sich die Gorges du Verdon. Wir nehmen die nördliche Strecke durch La-Palud-sur-Verdon, welche deutlich weniger Höhenmeter hat als die Südvariante. Am Point Sublime und an der Abfahrt vom Col d’Ayen (1031 m) zum Lac de Sainte-Croix bieten sich an mehreren Stellen Ausblicke in die tiefe Schlucht, wo sich für viele Sportarten wie Rafting, Wandern, Klettern, oder Tretboot fahren die passenden Bedingungen bieten.
Letztes Zwischenziel vor dem Mittelmeer ist das Plateau de Valensole, wo Anfang Juli der Lavendel und der Salbei in voller Blüte stehen und für Postkartenmotive in violett sorgen. Dazwischen Kornfelder sowie Oliven- und Mandelbäume und kleine Eichenwäldchen, in denen die Bienenstöcke von Milliarden von Bienen stehen, die unablässig von Lavendelblüte zu Lavendelblüte fliegen. Im mittelalterlichen Ortskern von Valensole decken wir uns mit Mitbringseln für die Daheimgebliebenen ein.
Mit Zwischenstopp an der Kathedrale von Saint-Maximin-la-Sainte-Baume geht es nördlich am Massiv de Sainte Baume entlang und über Aubagne nach Cassis ans Meer. Der Urlaub klingt mit einer Wanderung durch den Nationalpark der Calanques und der Abschlussetappe nach Marseille aus, von wo uns der TGV in wenigen Stunden zurück nach Deutschland bringt. Einziger Wermutstropfen zum Schluss: Der TGV verfügt über keine Radstellplätze, sodass man sein Fahrrad als Gepäckstück verpacken muss, wenn man es mitnehmen will. Nach einer so eindrucksvollen Reise bekommen wir aber auch das noch hin.